Prolog

Knapp eine Woche vor dem Abflug verabschiedete ich mich innerlich von diesem Urlaub:

In der Nacht vom Sonntag zum Montag meiner letzten Arbeitswoche wurde ich gegen 4 Uhr morgens wach. Ich spürte, dass Karlie ins Schlafzimmer gekommen war und konnte den kleinen grau getigerten Klecks im durch die Jalousie reinfallenden Licht der Straßenlaterne auch erkennen. Ich sprach ihn an. Normalerweise kullert er sich dann auf die Seite und lässt sich kraulen. Aber keine Reaktion. Unbeweglich hockte er da. Ich knipste die Nachttischlampe an und ging ums Bett herum, denn er saß mit dem Rücken zu mir. Als ich ihn anblickte, wurde mir ganz flau im Magen. Sein liebes Gesichtchen war fürchterlich geschwollen. Die Augen tränten und aus der Nase tropfte immer wieder eine mit Blut durchsetzte Flüssigkeit. Das weiße Lätzchen und die weißen Vorderpfötchen waren vom Blut bräunlich verschmiert und auch auf der Decke waren einige große Bluttropfen. Karlie öffnete immer wieder das Mäulchen, offensichtlich bekam er durch die Nase kaum Luft.
Mir kamen sofort die Tränen, als ich sah, wie sehr er litt.

Ich ging ins Arbeitszimmer und schaltete den Computer ein, um rauszufinden, welcher Tierarzt in der Gegend Notdienst hat. Karlie kam mir auf wackeligen Beinchen hinterher, kletterte auf seine Heizungshängematte, rollte sich zusammen und drehte das Köpfchen etwas auf die Seite. Nun sah ich, dass er am Kinn eine bestimmt 5 cm lange Schramme hatte. Das Fell war bis auf die Haut weg. Aufgrund der Schwellungen und der Schramme vermutete ich eine böse Rauferei mit einer anderen Katze. Kurz darauf war er eingeschlafen und ich sah, dass es ihn nun im Schlaf nicht mehr ganz so quälte, denn sein Körperchen entspannte sich etwas. Solange es ihm nicht schlechter ging, wollte ich ihn erstmal in Ruhe lassen und dann lieber später zu meinem Tierarzt (der eine nagelneue, hervorragend ausgestattete Praxis mit allen möglichen Untersuchungsgeräten etc. hat) fahren.

Ich schrieb meinem Chef daher eine Mail, dass und warum ich kurzfristig einen Tag freinehmen muss. Dann surfte ich lustlos im Internet rum und beobachtete meinen kleinen Liebling, ob sich sein Zustand womöglich verschlechterte. Karlie wachte immer mal auf, weil er durch die Nase einfach nicht atmen konnte und dann durch das Mäulchen nach Luft schnappte.

Die Zeit verging einfach nicht.

Gegen 7 Uhr zog ich mich an, putzte mir die Zähne, richtete schon mal seine Transportbox her und hoffte, dass es endlich Zeit war und die Tierarztpraxis besetzt ist. Die offiziellen Sprechzeiten sind erst ab 9.30 Uhr, aber gegen 8.30 Uhr ging jemand ans Telefon und ich konnte gleich vorbeikommen. Vorsichtig packte ich Karlie in seine Box und fuhr mit ihm in den Nachbarort. Im Gegensatz zu Routine-Tierarztbesuchen jammerte Karlie bei dieser Fahrt überhaupt nicht.

Beim Tierarzt angekommen, konnten wir sofort in das Untersuchungszimmer und ich fing gleich wieder an zu Heulen, als mein kleiner Liebling wie ein Häufchen Elend auf dem Untersuchungstisch hockte. Zu seinen Schmerzen kam nun auch noch die Angst durch die Autofahrt, die fremde Umgebung... In dem Moment verabschiedete ich mich von der geplanten Colorado Tour. Ich würde alles tun, damit Karlie wieder gesund wird und ich würde ihn auf keinen Fall allein lassen. Dies sagte ich auch der Tierärztin, denn diese hatte ich erst vor ein paar Tagen informiert, dass ich verreise und wenn je was sein sollte, dass meine Katzensitterin dann auf sie zukommt. Die Tierärztin meinte, ich soll auf keinen Fall gleich meine Reise stornieren, sondern erstmal abwarten.

Ich hätte in dem Moment, ohne mit der Wimper zu zucken, alles abgeblasen. Mietwagen und Übernachtungen wären sowieso kostenfrei stornierbar gewesen. Und das Geld vom Ticket war mir egal.

Die Tierärztin betrachtete sein Gesichtchen und meinte dann, dass es nicht nach einer üblen Rauferei aussieht, sondern dass er wohl fast frontal gegen ein Auto gerannt ist, denn dazu würden die Prellungen eher passen. Die aufgescheuerten Oberseiten der Öhrchen und die Schramme am Kinn sprachen dafür.
Die Tierärztin tastete seinen Körper komplett ab und dann wurde er ins Nebenzimmer zum Röntgen gebracht.
Als sie wieder zurückkamen, wurde ich ins Nebenzimmer gerufen und die Tierärztin erklärte mir auf einer gestochen scharfen Aufnahme am PC, dass Karlie zum Glück keine inneren Verletzungen hatte. Nun heulte ich vor Erleichterung.

Noch heute fällt es mir sehr schwer, diese Stunden zu beschreiben.

Da es an einer Stelle der Lunge jedoch einen kleinen Schatten gab, bot sie mir an, dass ich Karlie für 24 Stunden zur Beobachtung dort lassen kann, denn man sollte während der nächsten Stunden immer wieder seinen Atemrhythmus kontrollieren. Da ich aber den Tag eh abgeschrieben hatte, wollte ich Karlie wieder mit nach Hause nehmen, denn ich war der Überzeugung, dass er daheim, in seiner gewohnten Umgebung, schneller genesen würde.

Karlie bekam eine Spritze gegen die Schmerzen und sie zeigten mir, wie ich ihm in den nächsten Tagen Nasentropfen verabreichen und ein Schmerzmittel per Spritze ins Maul geben muss. Für die Schramme am Kinn bekamen wir eine Tube Wundsalbe mit, ebenso eine Tube mit einer Creme für die Augen, weil diese ständig tränten. Und natürlich erklärten sie mir auch, wie ich seine Atemzüge zu kontrollieren hätte. Wir vereinbarten, dass ich mich am Nachmittag dann nochmal melden würde.

Daheim angekommen kletterte Karlie aus der Box und tappste in die Küche zu seinem Freßnapf. Das Schmerzmittel wirkte offensichtlich und er hatte wenigstens wieder Appetit und genug Kraft, um etwas zu fressen. Das gab mir innerlich Auftrieb. Karlie zog sich dann auf seinen Kratzbaum zurück und schlief. Jede halbe Stunde zählte ich seine Atemzüge und er atmete ganz ruhig. Später telefonierte ich mit der Tierärztin und da sich nichts verschlechtert hatte, ging sie nun zuversichtlich davon aus, dass sich Karlie recht schnell erholen würde. Er sollte jetzt ein paar Tage drin bleiben, damit er einfach viel Ruhe hat.
Ich konnte da noch nicht so richtig dran glauben, dass es wirklich wieder so schnell bergauf gehen sollte.

Gegen 20 Uhr wachte Karlie dann auf, kletterte von seinem Kratzbaum runter und trippelte in die Küche zu seiner Katzenklappe. Aber die war weg. Ein großer Karton stand davor und vor diesem noch ein Einkaufskorb, der mit Büchern beschwert war. Fragend blickte mich Karlie an und statt einem Warum-Miauen kam wegen der Schwellungen im Gesicht nur ein Fiepen. Da ich dachte, dass er mal muss, dirigierte ich ihn ins Badezimmer, denn dort stand sein Klochen. Seit dem Beginn seines Freigängerlebens machte er da nicht mehr rein, aber es stand noch immer geputzt und mit frischen Streu aufgefüllt im Bad. Er warf nur einen Blick darauf und drehte wieder um, so nach dem Motto "ich bin doch schon ein großer Junge und brauche keine Pampers mehr". Und in den folgenden Stunden spielten wir dieses Spiel mehrmals. Immer wieder kam er piepsend zu mir, weil er nach draußen wollte, und ich versuchte, ihn zu animieren, sein Klochen zu benutzen. Mir tat er so leid, wie er mit seinem geschwollenen Gesichtchen zu mir aufblickte. Irgendwann gegen 2 Uhr morgens schliefen wir beide erschöpft auf dem Sofa ein.

Am nächsten Morgen kam dann die Rache von meinem kleinen Klitschko, wie ich ihn gestern Abend schon manchmal genannt hatte. Ich hatte mir im Badezimmer gerade die Zahnbürste in den Mund gesteckt, da kam er rein, warf mir einen - wie ich meinte - verächtlichen Blick zu, ging schnurstracks in Klochen und machte seinen Schiss. Ich hörte förmlich seine Gedanken "wenn du mich nicht raus lässt, dann mache ich einen stinkenden Haufen, während du dir die Zähne putzt"... Dieses "Spiel" hielt er übrigens während der gesamten Zeit von seinem Hausarrest durch. Ging ich Zähne putzen, kam Karlie zum Kacken nach...

Das Zeremoniell des Verabreichens seiner Medizin war so durchwachsen. Das Schmerzmittel bekam ich ganz gut in ihn rein, war die Spritze mal im richtigen Winkel an der Seite im Maul, da musste er einfach schlucken. Schien auch nicht schlecht zu schmecken, denn er wehrte sich nicht stark.
Mit der Salbe für die Augen kamen wir ganz gut klar. Die brauchte er auch nur noch am zweiten Tag nach dem Unfall, danach waren die Augen wieder glasklar. Die Schramme am Kinn "behandelte" ich, während Karlie schlief. Da tupfte ich ihm dann immer vorsichtig eine dünne Schicht der Creme auf.
Anders war es mit den Nasentropfen. Soll ja immer nur ein Tropfen rein, also muss man ruhig "arbeiten" und vorsichtig dosieren. Sein Köpfchen konnte und wollte ich aufgrund der Prellungen nicht so halten, wie man eigentlich soll. Also drückte ich sein Köpfchen vorsichtig am Kinn hoch und führte die Pipette über ein Nasenloch. Während ich vorsichtig einen Tropfen herausdrückte, schielte Karlie diesen an und - schwupps - kurz bevor sich der Tropfen von der Pipette löste, schnellte die Zunge hervor und leckte ihn ab... Da waren immer ein paar Versuche fällig, bevor der Tropfen auch sein Ziel fand.

An der Art, wie ich seine Genesung beschreibe, merkt Ihr, dass es ihm täglich besser ging. Ich war wirklich sehr erstaunt, wie schnell dies erfolgte.
Durch die tägliche Dosis vom Schmerzmittel hatte er nach wie vor Appetit und auch die Schwellungen klangen recht schnell ab.
Als ich am Mittwochnachmittag vom Büro kam, war das Näschen dann auch wieder komplett frei und der Herr wurde langsam etwas ungnädig mit seinem Hausarrest. Daher telefonierte ich nochmal mit der Tierärztin und wir beschlossen, dass ich ihm am nächsten Tag kein Schmerzmittel mehr gebe, ihn nachmittags raus lasse und beobachte, wie er sich verhält.

Gesagt - getan: Es war mein letzter Tag vor dem Urlaub, den ich mit zunehmender Zuversicht nun wohl doch antreten konnte. Ich machte einen kurzen Arbeitstag, war gegen 14.30 Uhr daheim und beseitigte die Hindernisse vor der Katzenklappe. Karlie saß, alles neugierig beobachtend, dabei und begrüßte dann seine Katzenklappe wie eine lang vermisste Freundin. Draußen wurde erstmal alles gründlich beschnuppert. Dann lief er zielstrebig auf seine Lieblingshecke zu und buddelte ein Loch. Und dort machte er dann erstmal den Schiss seines Lebens. Ich habe noch nie eine Katze mit so einem erleichterten Gesichtsausdruck kacken gesehen wie Karlie an diesem Tag.

Karlie verhielt sich nun wieder ganz normal und nahm seine Reviergänge auf. Es folgte ein weiteres Telefonat mit der Tierärztin am Freitag und sie meinte, ich könne beruhigt in den Urlaub fliegen. Auch die Nasentropfen sollte ich jetzt absetzen. Mit meiner Katzensitterin stand ich natürlich auch die ganze Zeit in Kontakt und sie freute sich mit uns, dass sich Karlie so schnell erholt hatte und sie sich die nächsten drei Wochen um ihn kümmern konnte, ohne ihm Medikamente geben zu müssen. (Das ist ja für den Besitzer des Tieres schon nicht einfach, aber Fremde müssen sich da ja noch mehr dran gewöhnen.)

Als ich am Samstag meinen Trolley packte, schaute Karlie ab und zu mal vorbei. Manchmal hatte ich das Gefühl, er würde mir einen Blick zuwerfen, der besagt "geh mit Gott, aber geh - Hauptsache, du schmierst und tröpfelst mir nicht ständig was ins Gesicht...".
Als würden wir beide gerade etwas Abstand voneinander brauchen, weil es mir natürlich auch nicht leicht gefallen ist, das Tier zusätzlich zu quälen, indem ich ihm die Medizin immer aufzwängen musste.

Und so kam es, dass ich meine Colorado-Tour doch noch antreten konnte.

Sorry, das war jetzt lang und sehr ausführlich. Aber wer mich kennt, der weiß, dass mich dies alles sehr stark beschäftigt hat. Daher gehört es auch irgendwie zu der Tour dazu. Ich hätte wirklich ohne Reue, Traurigkeit etc. auf die Reise verzichtet - Hauptsache, Karlie wird wieder gesund.
Dazu kamen dann noch Überlegungen, ob ich Karlie während meines Urlaubs nicht doch lieber in eine Katzenpension gebe. Vor allem, weil ich jetzt überängstlich war, während er sich draußen aufhielt und aber auch, falls doch in irgendeiner Art ein Rückfall kommt. Letztendlich entschied ich aber, ihn in seiner gewohnten Umgebung zu lassen. Und ich will es vorneweg nehmen: Es hat alles wunderbar geklappt.

Und so brach ich - wenn auch mit noch immer gemischten Gefühlen - gen USA auf.

Die Tour bekam den Titel "Evidence of the Past", da nicht nur die Natur im Vordergrund stand, sondern auch einige Ghost-Town Besuche in Colorado geplant waren und sicherlich einige Relikte aus "goldenen Zeiten" meinen Weg kreuzen würden. Colorado war für mich absolutes Neuland und ich war mächtig gespannt, wie es mir gefällt. Mit grauen Bergen und weißen Gipfeln und grünen Wäldern hab ich es ja nicht so... aber jetzt bestand ja die Chance, die berühmte Laubfärbung der Aspen zu erleben.